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Sunday, 7 November 2010

Vorlesung von Doron Rabinovici Schriftsteller und Geschichtswissenschaftler zum Thema Sprache und Schuld im Rahmen des Zyklus Recht und Literatur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich


Ich bin auf einen Tag in Zürich zu Besuch. Mein Bruder sagt: "Heute Abend gibt es 'was Interessantes zu sehen". Der österreichische Schriftsteller Doron Rabinovici hält eine Vorlesung über „Sprache und Schuld“ an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Ich habe Robert Menasses „Vertreibung aus der Hölle“ gelesen, Eva Menasses Vienna auf Englisch übersetzt in Londoner Buchläden gesehen, aber Doron Rabinovici ist mir Exilösterreicher sowohl in Amsterdam als auch an meinem Londoner zu Hause bisher entgangen. Die literarischen Empfehlungen meines Bruders sind aber immer gut; also nichts wie hin!

Der Hörsaal ist recht gut gefüllt. Rabinovici beginnt mit seiner Vorlesung. Mit feinen Formulierungen, anhand von Beispielen aus der Literatur, bringt er seine These, dass in der Literatur die Sprache Mittel hat, um komplizierte menschliche Verstrickungen so vielschichtig und differenziert darzustellen, wie sie oft sind. Er kontrastiert dies mit den beschränkten Möglichkeiten der Sprache im Kontext der formalen Rechtsprechung.

Ich höre gebannt zu. Die literarischen Vorbilder, die er bringt, habe ich nicht gelesen. Aber er fasst sie so gut zusammen, dass ich das Gefühl bekomme, ich kenne sie gut. Gleichzeitig bekomme ich Lust sie „wieder“ zu lesen. Die Fähigkeit zur vorteilhaften Selbsttäuschung ist also bei mir noch präsent. Bin ich dann doch, wie einst Kurt Waldheim, ein „echter“ Österreicher?

Über die österreichischen Gerichtsfälle, von denen Rabinovici spricht, habe ich mich auch im Exil auf dem Laufenden gehalten - teilweise haben sie mich amüsiert, teilweise aufgeregt. Rabinovicis Vorlesung ist eine wie aus Marmor gemeißelte feine Statuette bei der jedes Wort und jeder Klang stimmt. Auch den österreichischen Singsang habe ich im Ausland doch sehr vermisst. Laute Selbstgespräche im Badezimmer sind auf lange Sicht kein vollwertiger Ersatz.

Wortspiel ist bei Rabinovici kein Wiener Schmäh, sondern Wiener Witz.Witz ist die Vorhut der Weisheit. Wenn er erklärt, dass die Schuldfrage beim Zerbrechen einer menschlichen Liebesbeziehung im Roman wahrheitsgetreuer aufgearbeitet werden kann, als in einem Scheidungsverfahren vor Gericht, dann kommt der Satz: „Lebensgefährte – klingt das nicht immer nach Lebensgefahr?“

Dann zu Shakespeare's Kaufmann von Venedig. Rabinovici analysiert messerscharf die spitzfindige Strategie der Portia, die den Juden Shylock mit Tricks und Kasuistik, die christliche Tugend spüren lässt. Dies bringt Rabinovici zu der Bemerkung, so mancher nicht-jüdische Intellektuelle verlange heute von den Juden etwas ähnliches wie Portia von Shylock im Kaufmann von Venedig: Ein Stück Naher Osten können sie sich herausschneiden, aber ja kein Blut vergießen. Diese Bemerkung wird hier in Zürich noch ihr Nachspiel haben.

Zunächst ist die Vorlesung beendet; Zeit für Fragen aus der Zuhörerschaft. Mir fallen ungefähr 20 zugleich ein, aber ich bin der Zufallstourist hier und halte mich also zunächst zurück. Bald weiß ich wieder, warum ich damals nach der Matura nicht nach Wien und nicht nach St. Gallen ging, sondern in London mein Studium antrat. Dort wären nach so einer Vorlesung 100 Hände hochgeschossen auf die Einladung ans Publikum dem Vortragenden Fragen zu stellen. In Zürich stellen nur die 2 Professoren Fragen, die die Vorlesungsreihe organisiert haben. Und so kann ich, der ich in Amsterdam und London, Zentren der institutionalisierten Ausbildung zur Aufmüpfigkeit, meine besten Jahre verbracht habe, mich nach einiger Zeit melden und auch eine Frage stellen. Was sie war ist hier nicht wichtig, aber ich kriege eine ehrliche Antwort und eine Gegenfrage,

Der Hörsaal bleibt weiterhin stoisch, meine Frage hat keine Flutwelle von Publikumsfragen ausgelöst. So bekommt der deutsche Rechtsprofessor, der Schweizer Studenten alles was Recht ist lehrt, die letzte Frage. „Sie machten da bei Shakespeare eine Bemerkung über Israel“, meint er. Ich hoffe doch sehr, dass Sie nicht beabsichtigten die unrechtmäßige israelische Besatzung zu relativieren? Der israelisch-österreichische Doppelbürger und agnostische oder gar atheistische Jude Rabinovici ist sichtlich betroffen. Das war sicher nicht gemeint, und er dachte es auch gar nicht; sei das wirklich so herübergekommen?
In meinem Kopf ist inzwischen Sturm: „Da hört ein deutscher Rechtsprofessor einem differenzierten Vortrag über Schuld und Sprache zu, in dem sich der Vortragende unter anderem auch auf Kurazawas Film Rashomon bezog. Der ist das Paradebeispiel, wie ein Tathergang aus vielen Perspektiven sehr verschieden erlebt wird. Der Herr Professor aber sieht es schwarz-weiß. Er will sicher sein, dass Rabinovici nicht Israels Politik relativiert. An diesem deutschen Wesen sollen Schweizer Jusstudenten genesen. Vielleicht kann der Herr Professor auch nicht anders. Der Vortrag war möglicherweise ein bisschen zu literarisch für ihn. Da muss man sich doch auf ein Detail konzentrieren. Der Herr Professor will es doch nur genau wissen. Er ist vielleicht Pedant, ein I-Tüpferlreiter wie die Wiener elegant sagen. Bei den Niederländern heißt das „mierenneuker“. Das ist deftiger: „Ameisenficker“.“

Doch dann legt sich der Sturm in meinem Kopf.. Ein Wölkchen zieht in vor meinem inneren Auge vorbei. Auf ihm sitzen schmunzelnd Karl Kraus und Helmut Qualtinger beim Heurigen, jeder das Glas Weißwein in der Hand. Auch sie haben der Vorlesung aufmerksam zugehört, und stoßen an auf ihren würdigen Nachfolger, Doron Rabinovici. Ein echter Wiener geht net unter – auch wenn er in Tel Aviv geboren ist.








Meine Nachschau- und Nachleseliste:

Ljudmilla Ulickaja:
Robert Schindel: Gebiertig (Buch und Film)
http://oe1.orf.at/artikel/207205
http://www.schindel.at/

Albrecht Drach: Das Protokoll gegen Zwetschgenbaum (geschrieben 1939)
Eva Menasse: (Buch zum Prozess gegen den britischen Holocaustleugner Irving)
Eva Menasse: Vienna
Helmut Qualtinger: „Der Papa wird’s schon richten, das g'hoert zu seinen Pflichten“
Akira Kurozawa: Rashomon (Film)

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